Kevin Müllers Wecker klingelt im Dunkeln. Der 28-jährige Vorarbeiter einer Dachdeckerfirma schält sich aus dem Bett und greift automatisch nach seinem Handy. Drei verpasste Anrufe von seinem Chef Meister Hoffmann. Sein Magen krampft sich zusammen.
"Scheiße", murmelt er und ruft zurück.
"Kevin, wo bleibst du? Die Sendung ist nicht angekommen und die Baustelle in Meerbusch muss heute fertig werden!", brüllt Hoffmann ins Telefon.
"Ich bin in zehn Minuten da", antwortet Kevin und zieht sich hastig an. Frühstück fällt wieder mal aus.
Um 6:45 Uhr steht Kevin auf dem Dach eines Einfamilienhauses. Der Nieselregen macht die Ziegel rutschig, und der Wind pfeift ihm um die Ohren. Seine drei Kollegen sehen genauso müde aus wie er sich fühlt.
"Haben wir wenigstens das richtige Material?", fragt Mike, der Lehrling, während er sich die kalten Hände reibt.
Kevin schaut in den Transporter. Falsche Ziegelfarbe. Wieder mal. "Nein, aber wir müssen trotzdem weitermachen. Der Kunde will das heute fertig haben."
Seine Knie schmerzen schon seit Wochen. Zwölf Jahre auf dem Bau hinterlassen Spuren. Aber zum Arzt gehen bedeutet Ausfall, und Ausfall bedeutet weniger Geld.
Um 10 Uhr taucht der Hausbesitzer auf. "Das sieht aber anders aus als auf dem Muster", meckert er sofort. "Und warum dauert das so lange? Mein Nachbar hatte sein Dach in drei Tagen fertig."
Kevin atmet tief durch. Das ist bereits der dritte Kunde diese Woche, der unzufrieden ist. "Das Material wurde falsch geliefert, Herr Berger. Wir tun unser Bestes."
"Das ist nicht mein Problem! Ich zahle für Qualität!"
Kevin spürt, wie sich seine Nackenmuskulatur verspannt. Früher konnte er mit schwierigen Kunden umgehen. Aber in letzter Zeit gehen ihm diese Diskussionen richtig an die Substanz.
In der Baubude holt Kevin sein Butterbrot raus. Trocken, lieblos geschmiert. Seine Frau Sandra arbeitet auch in Schichten als Krankenschwester – Zeit für gemeinsame Mahlzeiten gibt es selten.
"Ich halt das nicht mehr lange aus", sagt Mike und starrt auf seine Hände. "Gestern hat meine Freundin Schluss gemacht. Sagt, ich bin nie da und wenn, dann nur schlecht gelaunt."
Kevin nickt stumm. Kennt er. Sandra macht ihm auch Vorwürfe. "Du trinkst zu viel und redest zu wenig", hatte sie letzte Woche gesagt.
Die Wahrheit tut weh: Abends zwei, drei Bier sind inzwischen normal geworden. Manchmal auch vier. Hilft beim Abschalten. Hilft gegen die Schmerzen im Rücken. Hilft gegen die Gedanken.
Der Regen wird stärker. Das Dach ist rutschig wie Seife, aber der Zeitdruck lässt keine Pause zu. Kevin klettert die Leiter hoch, als sein Fuß abrutscht. Für einen Moment hängt er nur an der Dachrinne.
"Kevin!", schreit Mike von unten.
Kevin rappelt sich auf, das Herz rast. "Alles okay", ruft er zurück, aber seine Hände zittern. Das war knapp. Zu knapp.
Als er wieder unten ist, zündet er sich eine Zigarette an. Die vierte heute, obwohl er eigentlich aufhören wollte. Seine Finger sind so kalt, dass er das Feuerzeug kaum halten kann.
Um 18:30 Uhr sitzen Kevin und seine Kollegen in der Kneipe "Zum Goldenen Hirsch". Es ist Tradition – ein Feierabendbier nach harten Tagen. Aus einem werden zwei, aus zwei werden drei.
"Auf die scheiß Baustelle", prostet Mike bitter.
Kevin nickt und leert sein Glas. Der Alkohol brennt warm in seinem Magen und lässt die Anspannung langsam weichen. Hier, zwischen den vertrauten Gesichtern seiner Kollegen, kann er endlich durchatmen.
"Meine Frau versteht das nicht", sagt er zu niemandem bestimmten. "Die denkt, wir sägen hier nur ein paar Bretter."
"Die verstehen alle nichts", antwortet Fritz, der Älteste im Team. "Die sehen nur das Geld am Monatsende, aber nicht den Preis."
Kevin kommt um 21 Uhr nach Hause. Sandra sitzt am Küchentisch über Abrechnungen gebeugt. Sie riecht sofort den Alkohol.
"Schon wieder in der Kneipe gewesen?"
"Nur ein Bier mit den Jungs", lügt Kevin.
"Kevin, schau dich mal an. Du siehst aus wie ein Zombie. Wann hast du das letzte Mal ohne Schmerztabletten geschlafen?"
Er setzt sich schwer auf einen Stuhl. Sie hat recht. Die Ibuprofen gehören inzwischen zur Grundausstattung wie Hammer und Nagel.
"Es ist nur stressig gerade. Das wird wieder."
Sandra schaut ihn lange an. "Das sagst du seit zwei Jahren."
Kevin liegt wach und starrt an die Decke. Sein Rücken schmerzt, die Schulter auch. In sechs Stunden klingelt wieder der Wecker.
Früher hat er seinen Job geliebt. Das Gefühl, mit den eigenen Händen etwas zu schaffen. Ein Dach, das Familien schützt. Aber jetzt? Jetzt ist da nur noch Hetze, Druck und die ständige Angst, einen Fehler zu machen oder sich zu verletzen.
Er denkt an Mike, der gerade mal 19 ist und schon so verbittert klingt. Ist das die Zukunft?
Das Handy auf dem Nachttisch summt. Eine SMS vom Chef: "Morgen früh erstmal Material holen, dann direkt nach Düsseldorf. Kunde will Termin vorziehen."
Kevin schließt die Augen und spürt, wie sich alles in ihm zusammenzieht. Er denkt an das Bier im Kühlschrank. Nur eins. Zum Einschlafen.
Während er in die Küche schleicht, fragt er sich, wie lange er das noch durchhalten kann. Und ob es normal ist, dass er jeden Tag darüber nachdenkt, was passieren würde, wenn er einfach nicht mehr aufstehen würde.